Donnerstagabend, 19.30 Uhr. Kamera? Kamera läuft! Mikrofon? Mikrofon läuft! Der Livestream startet. „Die Chefin und der Praktikant“ gehen via YouTube auf Sendung.
Das Format ist kein Straßenfeger, aber eine inzwischen ebenso leichtfüßige wie ernst zu nehmende Form des Dialogs mit den Kundinnen (ja, mehrheitlich Frauen!) von Patch & Work und dem stoffhaus. Grit Weigmann ist Inhaberin der beiden Stoffläden in Halle. Patch & Work besteht seit 2005. Mit gut einhundert Baumwollstoffen fing alles an. Zielgruppe: Frauen, die sich für die kunstvolle Fertigung sogenannter Quilts und anderer Patchwork-Produkte interessieren. Es geht um die mal traditionelle und mal freie Verarbeitung einzelner Stoffteile (Patches) zu schönen Gebrauchsgegenständen oder Accessoires.
Grit Weigmann hat sich das Handwerk selbst beigebracht. Quilts von ihr landeten schon in Fachzeitschriften oder tourten mit der World Quilt Show durch die USA. Das Thema ist alles andere als auf Digitalisierung ausgerichtet. „Do it yourself“ (DIY) ist ab etwa 2010 ein Mega-Trend. Wer Stoff kauft, will Farben vergleichen, das Material anfassen, die Nähmaschine reparieren lassen.
Mit den Jahren wächst der Laden. Mehr als 2.600 Stoffe sind inzwischen im Patch & Work ständig verfügbar. Der Laden beeindruckt auch durch Atmosphäre. Es gibt Pläne
der Erweiterung, die durch den ersten Corona-Lockdown im März 2020 ausgebremst werden. Hinter geschlossener Tür haben die Mitarbeiterinnen mehrere Tausend
Stoffmasken genäht. Anfang Mai stehen Menschen vor dem Laden Schlange, um Stoff und Gummis oder fertige Masken zu kaufen. Der hohe Umsatz soll später den Laden im zweiten Lockdown retten – ebenso wie die Pläne für das stoffhaus. Das wird im Juli 2021 eröffnet.
Doch da sind die Bedingungen schlecht. Die Kauflaune ist gedämpft, der DIY-Trend anscheinend gestört. Ein eilig eingerichteter Webshop kann die Ausfälle nicht
kompensieren. Wettbewerber bieten Live-Verkäufe auf Instagram. Im April 2021 starten Grit, Anna-Victoria und Frieder Weigmann einen ersten Versuch mit einem
Online-Verkauf live auf Instagram. Grit hat die tragende Rolle, Tochter Anna-Victoria unterstützt bei den Abläufen, Frieder richtet Kameras und Ton ein. Ein kleines
Video-Mischpult und drei Kameras bieten verschiedene Perspektiven – technisch nicht perfekt, aber ambitioniert.
Der Verkaufserfolg ist schwach, doch die Resonanz ermutigend. Instagram scheint aber der falsche Kanal für die Kernkundschaft, die über einen klassischen E-Mail-Newsletter und über die Homepage eingeladen wird. Zweiter Versuch im April 2021. Über einen YouTube-Livestream entsteht eine größere Aufmerksamkeit. Doch auch hier ist der Verkauf enttäuschend. Was wollen die Leute hören und sehen? Wie kann der Stoff so präsentiert werden, dass er „rüberkommt“? Die nächsten Live-Termine werden zu einem Übungsfeld, zunehmend ermutigt dadurch, dass der YouTube-Kanal immer häufiger besucht wird. Interessierte schauen sich das Live-Video später als Aufzeichnung an. Im Laden fragen Kundinnen nach den Stoffen, die Tage zuvor live präsentiert wurden. Der Dialog im YouTube-Livestream wird mit den nächsten Ausgaben immer wichtiger. Kleine Pannen werden freundlich kommentiert, es werden Fragen zu den Stoffen gestellt, die von Grit prompt beantwortet werden.
Das funktioniert aber nur, wenn die „Regie“ im Hintergrund den Chat verfolgt. Aus diesen Erfahrungen haben wir das Format „Die Chefin und der Praktikant“ entwickelt. Die Mischung aus Kompetenz und „Ich habe da mal eine Frage“ hat Unterhaltungswert. Regieabläufe werden ebenso offen integriert, wie die direkte Reaktion auf Publikumsfragen. Grit, die Chefin, kann in längeren Strecken Dinge ausführlich darstellen, immer mal wieder unterbrochen durch Frieder (der Praktikant). Als hauptberuflicher Journalist und Pressesprecher bringt er ein Gespür für das Publikum und die Präsentationsformen mit – und gibt mit unbedarften Fragen den Anwalt der Nicht-Fachleute.
Der Verkauf steht nicht mehr im Vordergrund, zumal die Stoffe in den Läden ja auch wieder direkt gekauft werden können. Diese Digitalisierungsgeschichte ist eine Marketinggeschichte. Die YouTube-Präsentationen bringen die beiden Läden bis an die Sofa-Kante. Die gespeicherten Videos werden immer noch aufgerufen. Die 45 bis 60 Minuten dauernden Präsentationen folgen inzwischen einem Drehbuch und sind fast wie eine Magazin-Sendung aufgebaut. Es gibt Clips und Bilder als „Einspieler“, Terminhinweise und Nähtipps. Die regelmäßig gesendeten Videos schaffen zusätzliche Aufmerksamkeit für den Ladenverkauf, bieten Gelegenheiten zur Ansprache und zum Kundendialog, bieten Service-Informationen und Inspiration. Sie erhöhen die Kundenbindung und akquirieren neue Kundschaft. Das digitale Dialogmedium stützt das Ladengeschäft und soll deshalb weiter ausgebaut werden.